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Jetzt anmeldenUmgeben von Nationalparks, Bären und Ahornsirup verbrachte Randi Heinrichs drei Monate an der Simon Fraser University in Kanada. Sie ist Doktorandin an der Leuphana Universität Lüneburg und forscht im Zukunftslabor Gesellschaft & Arbeit. In ihrer Forschung geht es um gesellschaftliche Herausforderungen digitaler Kulturen, um die Rolle von Anonymität in sozialen Netzwerken und um Infrastrukturen sogenannter (Daten-)Nachbarschaften, die unter anderem für Empfehlungsalgorithmen und was allgemein als Personalisierung bekannt ist, verwendet werden. Im Interview mit dem Zentrum für digitale Innovationen Niedersachsen (ZDIN) erklärt sie, warum sie die Forschung nach Kanada brachte und welche Erkenntnisse sie dort gewann.
ZDIN: Frau Heinrichs, wie kam es zu Ihrem Forschungsaufenthalt in Kanada?
Heinrichs: An der Simon Fraser University gibt es das renommierte Digital Democracies Institut (DDI), wo sich eine Forschungsgruppe explizit mit der Herkunft von Daten-Nachbarschaften befasst, also der Frage, warum nun gerade das Konzept der Nachbarschaft seinen Weg in die Dateninfrastruktur unserer sozialen Netzwerke und personalisierten Dienste gefunden hat. Das Team unter der Leitung von Prof. Wendy Chun hat eine Studie aus der Nachkriegszeit in den USA ausgewertet, in der Soziolog*innen soziale Muster in Nachbarschaften analysiert hatten. Die Studie ist bisher unveröffentlicht, aber dennoch für heutige Netzwerkwissenschaften zentral. Durch die Auswertung dieser Studie konnte das Team um Prof. Chun aufzeigen, dass die Konzeption unserer digitalen Nachbarschaften auf Annahmen beruhen, die Diskriminierung und Ausschluss von Andersartigkeit begünstigen. Ich interessierte mich konkret dafür, welche Rolle Anonymität bei diesem Problem von Datendiskriminierung spielt, da das Konzept der Anonymität häufig als Schutz gegen Benachteiligung eingesetzt wurde und wird. Zum Beispiel werden wissenschaftlichen Artikel heutzutage nach dem double-blind review Verfahren begutachtet, welches die Einschätzung der Qualität eines Textes am Inhalt und nicht anhand von Namen oder Position der Autor*Innen sicherstellt, ebenso wie es die freie Meinungsäußerung der Begutachter*Innen unterstützen soll. Daher wollte ich wissen, was in der erwähnten Studie zu Anonymität in der Nachbarschaft steht; also kurz gesagt unterstützt oder unterläuft Anonymität Daten-Diskriminierung? Aus diesem Grund wollte ich das DDI besuchen und bewarb mich auf den MITACS Global Research Award – ein Stipendium für Studierende, Doktorand*innen und Postdoktorand*innen, das Forschungsaufenthalte in Kanada ermöglicht. Mit diesem Stipendium konnte ich nach einiger Wartezeit wegen Covid im Juni 2022 endlich nach Kanada reisen.
ZDIN: Wie hängt der Aufenthalt mit Ihrer Forschung im Zukunftslabor Gesellschaft & Arbeit zusammen?
Heinrichs: Das Institut, an dem ich war, hat ähnliche interdisziplinäre Strukturen wie das Zukunftslabor Gesellschaft & Arbeit und forscht an ähnlichen Themen: Die Kolleg*innen des Digital Democracies Institute bringen Forschungsansätze aus den Geistes-, Computer- und Datenwissenschaften zusammen, um die digitale Transformation in ihrer Tiefe zu verstehen. Ich konnte mit Expert*innen aus den verschiedenen Disziplinen über die sozialen Herausforderungen und technischen Aspekte sprechen, die Datennachbarschaft in sozialen Netzwerken produzieren. Das war für meine Dissertation sehr hilfreich.
ZDIN: Worum ging es genau?
Heinrichs: Die Möglichkeit, in digitalen Netzwerken Daten zu sammeln und unterschiedliche Informationsquellen zu verbinden, wirft neue Herausforderungen bei der Herstellung und Sicherung von Anonymität auf. Bei der Debatte um Anonymität im Kontext digitaler Netzwerke gibt es weitestgehend zwei Standpunkte unter Wissenschaftler*innen: Die einen gehen davon aus, dass durch die vermehrte Datenerhebung und Auswertung Anonymität technisch mehr und mehr unmöglich wird. Die anderen sind der Meinung, dass Anonymität ein Gegenmittel gegen die Datenanalysen darstellen könnte und daher gestärkt und geschützt werden muss. In meiner Dissertation zeige ich, dass die Anonymisierung von Daten heute Gefahr läuft, ein Alibi zugunsten der Geschäftsmodelle der Digitalökonomie zu werden. Der Grund dafür ist, dass anstelle von personenbezogenen Daten für die Analysen Nachbarschaften genutzt werden. Dabei werden Daten über das Nutzungsverhalten von ähnlichen Nutzer*innen analysiert und auf ganze Gruppen, die Nachbarschaften, übertragen. Klassisches Beispiel ist die Empfehlung für Produkte, die einem im Online-Shop angezeigt werden. Algorithmen empfehlen Produkte auf Basis dessen, was ähnliche Nutzer*innen noch gekauft oder angeklickt haben. Über solche Datenerhebungen und Einteilungen können Nutzer*innen stereotypifiziert werden. Das heißt, Nutzer*innen werden anhand ihrer Nachbar*innen weiter mit gezielter Werbung adressiert, obwohl keine Daten verwendet werden, die unter Privatsphäre-Rechten geschützt werden. Über die Zusammenhänge und Auswirkungen von Anonymität, Daten-Nachbarschaften und neuen Logiken der Nicht-Identifizierung forsche ich im ZDIN.
ZDIN: Inwiefern hat Ihnen der Aufenthalt in Kanada bei Ihrer Dissertation geholfen?
Heinrichs: Ich konnte viele Gespräche mit den Wissenschaftler*innen vor Ort führen und mir regelmäßig Feedback zu meiner Arbeit einholen – sowohl vom Forschungsteam als auch von den leitenden Wissenschaftler*innen. So konnte ich z. B. die Kolleg*innen aus der Network Science fragen, ob ich technisch alles richtig wiedergebe. Das hat mir enorm dabei geholfen, den ersten Entwurf meiner Dissertation zu schreiben. Ich habe den Aufenthalt also nicht nur zum Recherchieren und Forschen genutzt, sondern auch zum Konzeptualisieren und Schreiben. Es hat sich angefühlt wie bei Musiker*innen, die für ein neues Album ins Tonstudio fahren und sich komplett auf ihre Arbeit konzentrieren können.
ZDIN: Welche Erlebnisse und Erkenntnisse sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Heinrichs: Es war toll zu erleben, dass unsere Forschung im Zukunftslabor für andere Wissenschaftler*innen anschlussfähig ist und ähnliche Themen auch Wissenschaftler*innen in anderen Ländern umtreiben, von deren Arbeit und Methoden ich viel lernen konnte. Neben dem inhaltlichen Austausch, möchte ich auch nicht die Erfahrung missen, weit weg von zuhause für ein paar Monate zu leben, interessante Menschen kennenzulernen und die beeindruckende Natur rund um Vancouver zu erleben. Eine Dissertation zu schreiben ist auch persönlich eine Herausforderung, die zwar schlussendlich alleine gemeistert werden muss, aber von solchen Kooperationen, Austausch, Begegnungen und Erfahrungen erheblich unterstützt wird. Ich kann einen Forschungsaufenthalt im Ausland anderen Doktorand*innen also auf jeden Fall empfehlen.
Ansprechpartnerin für redaktionelle Rückfragen:
Kira Konrad B. A.
Marketing & Kommunikation
Zentrum für digitale Innovationen Niedersachsen (ZDIN)
Am OFFIS – Institut für Informatik, Escherweg 2, 26121 Oldenburg – Germany
Tel: 0441 9722-435
E-Mail: kira.konrad@zdin.de
www.zdin.de